Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf der Funktionsträgerkonferenz der NRW-Senioren Union

„Was die Briten machen, ist irrational“

09.08.2021

„Was die Briten machen, ist irrational“

Kein Gespräch, kein Treffen, keine Konferenz kann in diesen Tagen beginnen, ohne zuvor über die Flutkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes zu sprechen und an die fürchterlichen Schicksale zu denken. Diese Unfassbarkeit beschäftigte auch Jens Spahn am Anfang seines Vortrages auf der Funktionsträgerkonferenz der NRW-Senioren Union am 19 Juli. „Schlimmer konnte es nicht kommen, erst die Jahrhundert-Pandemie und dann noch eine Jahrhundertflut“, sagte der Bundesgesundheitsminister und erinnerte an die „von unvorstellbaren Flutmassen zerstörten Leben und Lebenswerke“. Darauf ging auch der SU-Landesvorsitzende Helge Benda in seiner Begrüßung ein und merkte an, Spahn habe sich „seine Amtszeit als Minister gewiss anders vorgestellt“.

Das Versprechen wird eingehalten

Spahn kritisierte, dass die Aufarbeitung der Flutkatastrophe wieder stark vom Wahlkampf geprägt sei, statt sich zuerst auf wirksame Hilfen zu konzentrieren. Diese Erfahrung musste der Bundesgesundheitsminister seit Beginn der Pandemie mehrfach machen, er kennt die – oft schäbigen - Versuche, jedes Ereignis politisch zu instrumentalisieren. Wie aber ist der aktuelle Corona-Stand? „Die Lage ist gut, das Virus verändert sich, der Impfstoff ist vorhanden, in punkto Impfung kann die Bundesregierung ihr Versprechen einhalten“, so fasste Spahn zusammen. Jetzt gehe es darum, mehr Menschen von der Notwendigkeit einer Impfung zu überzeugen. Hier gelte das CDU-Prinzip „Freiheit in Verantwortung“ – Verantwortung aus Rücksicht auf unsere Mitmenschen ebne den Weg raus aus der Pandemie. Die richtigen Lehren zu ziehen, ist Spahn ebenso wichtig: „Erstens, mehr Vorsorgen, sich besser auf solche Extremfälle vorbereiten; zweitens, bei der Digitalisierung schneller vorankommen; und drittens, souveräner werden, die starke Abhängigkeit von China verringern“. Man dürfe bestimmte Produktionen nicht abwandern lassen, Europa müsse sich dazu besser aufstellen, betonte der Minister. Auf Nachfrage ergänzte er, dass inzwischen über 80 Prozent der Gesundheitsämter eine einheitliche Software zur Kontakt-Nachverfolgung nutzen. Ursache für die schleppende Umsetzung sei eine zersplitterte Verwaltung, die an einigen Stellen dringend reformiert werden müsse. Spahn verwies in diesem Zusammenhang auch auf Erfolge beim Digitalisierungstempo und lobte die zügige Verbreitung des digitalen Corona-Impfnachweises. Dieser habe seit seinem Start am 11. Juni richtig Fahrt aufgenommen und werde bereits millionenfach genutzt.

Impfpflicht nicht zweckmäßig

Eine beherrschende Rolle spielte das Thema Impfpflicht in der eingehenden Fragerunde. Spahn, der erst im März vergangenen Jahres eine Impflicht gegen Masern durchgesetzt hat, lehnte diesen Schritt bei Corona ab. Er setzt auf wachsende Einsicht und Vernunft, auch bei Kindern und Jugendlichen oder beim Gesundheitspersonal. Nicht Geimpfte müssten allerdings erhebliche Einschränkungen hinnehmen, z. B. Ausschluss von Konzertbesuchen oder andere Hürden bei der Bewegungsfreiheit. Auch Hinweise auf den französischen Nachbarn (Macron: Impfpflicht für Personal im Gesundheitsbereich) können Spahn nicht überzeugen, weil er fürchtet, damit die gesellschaftliche Debatte über die Corona-Strategie überflüssig anzuheizen: „Wir würden nur zur weiteren Polarisierung beitragen“. Sehr kritisch beurteilte Spahn dagegen die Entscheidungen des britischen Premierministers Johnson zugunsten umfangreicher Liberalisierungsschritte. „Die Briten machen gerade ein gewagtes Menschheitsexperiment. Ich finde es irrational, aber wir werden sicher daraus lernen“, lautete seine distanzierte Einschätzung. Für die Bundesregierung wäre diese Strategie keinesfalls eine Option.

Neue Bemessungsgrundlagen

Ärzte fordern schon seit längerem neue Kennzahlen für die Corona-Schutzmaßnahmen. Eine Frage, der sich auch Spahn auf der Funktionsträgerkonferenz stellen musste: Können die Sieben-Tage- Inzidenzzahlen die einzige Grundlage zur Begründung von Beschränkungen sein? Dass sich hier bald etwas ändern wird, darauf deutet eine neue Verordnung des Gesundheitsministeriums hin, die Kliniken verpflichtet, mehr Details von Covid-Patienten zu übermitteln. Künftig sollen wohl mehrere Parameter zur Messung der Pandemie herangezogen werden, ließ Spahn durchblicken. Einbezogen werden könnten u.a. die Krankenhausbelegung und die Zahl der benötigten Intensivbetten. Auch in einer Stellungnahme des Robert Koch Instituts wird die „Hospitalisierung (Krankenhauseinweisung) als zusätzlicher Leitindikator“ empfohlen.

Ein großer Lernprozess

Rückblickend auf den Start der Impfkampagne äußerte eine Teilnehmerin ihr Unverständnis darüber, ausgerechnet die Kassenärztliche Vereinigung als Betreiber von Impfzentren zu verpflichten. Die seinerzeit auch vom Landrat des Kreises Heinsberg Stephan Pusch geäußerte Generalkritik bezog sich insbesondere auf die schleppenden Abläufe beim Impfen. Da wollte auch der Minister nichts schönreden und bestätigte eine „holprige Organisation“. Aber man habe inzwischen viel dazugelernt. Grundsätzlich sei der gesamte Verlauf der Pandemie ein großer Lernprozess gewesen, so wie „wir lernen müssen, noch lange mit der Pandemie zu leben“, betonte Spahn. Das bedeutet auch, dass ab September eine dritte Impfung angeboten wird. Vor allem Menschen mit einer schwachen Immunantwort sollten davon Gebrauch machen. Darüber hinaus empfahl er allen über 60-Jährigen eine Impfung gegen Gürtelrose, die von den Krankenkassen übernommen werde. Mit steigendem Alter nehme das Krankheitsrisiko zu, außerdem könnten langanhaltende Nervenschmerzen mit dieser Infektionskrankheit einhergehen.

„Macht einen guten Job“

Neben solchen praktischen Empfehlungen aus berufenem Munde wurden auch andere Themen angesprochen, wie Z.B. die Rechtsprechung zum Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte. Für Spahn kommt es nach dem Urteil des Bundesarbeitsgereichtes darauf an, eine Balance zu finden zwischen „fairer Bezahlung der Arbeitskräfte und einer finanziell zumutbaren Belastung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien“. Dies zu regeln, sei eine wichtige Aufgabe für die nächste Bundesregierung, die „angesichts der bevorstehenden Aufgaben unbedingt von der CDU geführt werden muss“. Jens Spahn gebühre große Anerkennung für seine Amtsführung unter erschwerten Bedingungen, betonte der SU-Landesvorsitzende Helge Benda in seinem Schlusswort und sprach vom „Bewältigungsstolz“, mit dem der Minister auf die Corona-Zeit zurückblicken könne. „Sie machen einen guten Job!“, lautete Bendas Beurteilung. Auch wegen Spahns kompetenter Beantwortung zahlreicher Fragen werden alle Teilnehmer diese Auffassung geteilt haben.

(Rotger Kindermann)